PU 615 – Diese Ketten werden zerbrochen werden! – 29. Dez. 22
Palestine Update 615: Diese Ketten werden zerbrochen werden!
Kommentar des Herausgebers
Etwas Gewichtiges passiert beim palästinensischen Widerstand. Die „Lions‘ Den“ entwickelt sich zu etwas politisch Ungeheurem. Israel hat versucht, es mit Puh-Rufen auszulöschen als etwas, das bald in „ihre Hände geraten“ könnte. Aber der Widerstand hat die israelischen Kläger überdauert und seine eigene wachsende Stärke angekündet. Die Palestine Authority (PA), die auch versucht, in der Gruppe den Ton anzugeben, hat die Sinnlosigkeit von solch einer Bewegung erkannt. Wenn der Widerstand versucht, Gruppeninteressen weiterzugeben und erreicht kollektive Dimensionen, ist es Zeit, sich aufzusetzen und Notiz davon zu nehmen. Die ‚Lions‘ Den‘ verändert zurzeit ihr Gesicht der Nicht-Zugehörigkeit in ein anderes, dass ausschaut, als würde es schwer zu unterdrücken sein.
Wie Ramzy Baroud, ein internationaler Syndikat-Kolumnist schreibt: „Die ‚Lions Den‘ ist ein noch nie dagewesenes Problem, dessen Konsequenzen drohen, die politische Dynamik in der besetzten West-bank vollständig zu verändern“. Ramzy Baroud ist der Ansicht, dass dieses ganze Phänomen eines ist, dem man sich stellen, es wahrnehmen und genau verfolgen muss. Er behauptet ferner, es ist „ein neues Modell für Widerstand“, welches zeigt, dass „die palästinensische Einheit sich verändert hat.“ Es ist „Must-read“ für alle, die die sich entpuppenden Entwicklungen in der Westbank verfolgen wollen. Baroud ist überzeugt von seinem Glauben, wie er in seinen Büchern bestätigt: „Diese Ketten WERDEN gebrochen werden“: ‚Palästinensische Geschichten von Kampf und Herausforderung in israelischen Gefängnissen‘.
Dieser kurze Essay muss gelesen werden.
In Solidarität und im Namen von MLN Palestine Updates
Ranjan Solomon
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Neues Widerstandsmodell zeigt, die Einheit Palästinas hat sich verändert
Ramzy Baroud
(Bild)
Gerade, als Israel, und sogar einige Palästinenser, über das „ Lions‘-Den-Phänomen“ in der Vergangenheit zu sprechen begannen, marschierte eine große Gruppe von Kämpfern, die zu der neu-gebildeten palästinensischen Gruppe gehörten, in diesem Monat in Nablus ein.
Im Vergleich zum ersten Erscheinen der Gruppe am 2. September war die Anzahl der Kämpfer, die am 9. Dezember an der Rally teilnahmen, bedeutend größer und sie waren besser ausgerüstet, und konnten den militärischen Strapazen besser standhalten und waren besser geschützt durch größere Sicherheitsvorkehrungen.
„Die ‚Den‘ gehört zu ganz Palästina und glaubt an die Einheit von Blut, Kampf und Gewehren“, sagte einer der Kämpfer in einer Rede, und bezog sich dabei auf eine Art von kollektivem Wider-stand, der die Interessen einzelner Fraktionen übertraf.
Unnötig zu sagen, das Ereignis war bezeichnend. Erst vor zwei Monaten unterschätzte der israelische Verteidigungsminister Benny Gantz die Gruppe, was Anzahl und Einfluss betrifft, und schätzte, es handle sich um „einige 30 Personen“ und äußerte: „Wir werden unsere Hände nach ihnen ausstrecken … und sie wegbringen.“
Die Palestinian Authority (PA) war auch aktiv beteiligt, die Gruppe zu unterdrücken, obwohl sie einen anderen Zugang wählte. Palästinensische und arabische Medien berichteten über großzügige Angebote von Jobs durch PA und Geld an die Kämpfer von Lions‘ Den, wenn sie zu-stimmten, ihre Waffen niederzulegen.
Beide, die israelische und die palästinensische Leitung, haben die Situation kräftig missdeutet. Sie haben falsch angenommen, dass die in Nablus geborene Bewegung ein regionales und provisorisches Phänomen sei, das, wie andere in der Vergangenheit, leicht zerstört oder gekauft werden könne. Die Lions‘ Den jedoch scheint an Zahl gewachsen zu sein und Zweige nach Jenin, Hebron, Balata und anderswohin ausgestreckt zu haben.
Für Israel, aber auch für einige Palästinenser, ist Lions‘ Den zu einem unvorhergesehenen Problem geworden zu sein, dessen Konsequenzen drohen, die politische Dynamik in der besetzten Westbank total zu verändern.
Weil die Kennzeichen von Lions‘ Den nunmehr in jedem palästinensischen Bezirk im ganzen besetzten Gebiet erscheinen, ist es der Gruppe gelungen, indem sie sich über eine besondere Nachbarschaft in Nablus – Al-Qasaba – hinaus entwickelt hat, einen kollektive palästinensische Erfahrung zu werden.
Ein kürzlich gegebener Überblick, der vom ‚Center for Policy and Survey Research‘ (= Zentrum für Politik- und Begutachtungs-Forschung) gegeben wurde, hat diese Forderung in eindeutiger Weise demonstriert. Seine Umfrage zeigte, dass 72 % aller Palästinenser die Schaffung von mehr solcher bewaffneter Gruppen in der Westbank befürwortet. Fast 60 % fürchten, dass eine bewaffnete Rebellion eine direkte Konfrontation mit PA riskieren würde. Zwischen 79 und 87 % weigern sich, die Kämpfer an Streitkräfte der PA zu übergeben und weisen sogar die Idee zurück, dass die PA das Recht haben könnte, solche Arretierungen sogar auszuführen.
Solche Zahlen weisen auch auf die Realität auf der Straße und zeigen auf den nahezu vollständigen Mangel an Vertrauen in die PA und den Glauben, dass nur bewaffneter Widerstand, ähnlich dem, den man in Gaza sieht, in der Lage ist, die israelische Okkupation herauszufordern.
Diese Anmerkungen werden durch die Nennung von Erfahrungswerten angetrieben: Führend darin sei das Versagen der finanziell und politisch korrupten PA, die palästinensischen Bestre-bungen irgendwie zu fördern; Israels vollkommenes Desinteresse an irgendeiner Form von Friedensverhandlungen, und der wachsende rechtsgerichtete faschistische Trend in der israelischen Gesellschaft, der direkt zusammenhängt mit der täglichen Gewalt, die gegen Palästinenser im besetzten Ostjerusalem und in der Westbank gerichtet ist.
Kürzlich berichtete der UN-Gesandte für den Mittleren Osten, Tor Wennesland, dass „2022 auf dem Kurs ist, das tödlichste Jahr für die Palästinenser in der Westbank seit … 2005 zu werden“. Das palästinensische Gesundheitsministerium berichtete, dass in diesem Jahr mindestens 167 Palästinenser in der Westbank getötet wurden.
Diese Zahlen können leicht zunehmen während der Arbeitszeit des beginnenden rechtslastigen israelischen Premierminister Benjamin Netanyahu. Die neue Regierung kann nur an der Macht bleiben mit der Unterstützung von Bezalel Smotrich von der religiösen Zionistenpartei und Itamar Ben-Gvir von der Jewish Power Partei. Ben-Gvir, der notorische Extremist, wird ironisch, jedoch nicht überraschend, als Israels neuer Sicherheitsminister gehandelt.
Aber da gibt es mehr am Kochen einer bewaffneten Rebellion in der Westbank als nur die israelische Gewalt allein.
Fast drei Jahrzehnte nach der Unterzeichnung des Osloer Abkommens haben die Palästinenser keines ihrer politischen oder legalen Grundrechte erreicht. Im Gegenteil, ermutigte rechtslastige Politiker in Israel sprechen jetzt von einer unilateralen „sanften Annexion“ von großen Teilen der Westbank. Keines dieser Themen erschien 1993 wichtig – der Status des besetzten Jerusalem, die Flüchtlinge, Grenzen, Wasser usw. sind jetzt auf der Agenda.
Seit damals hat Israel mehr in Rassengesetze und Apartheidpolitik investiert und es zum Apartheidregime par excellence gemacht. Wesentliche internationale Menschenrechtsgruppen haben über die neue, voll rassistische Identität Israels berichtet und diese akzeptiert.
Mit totaler Unterstützung von USA und keinem internationalen Druck auf Israel, der wert ist, genannt zu werden, mobilisiert die palästinensische Gesellschaft über die traditionellen Kanäle der letzten drei Jahrzehnte hinaus. Trotz der bewundernswerten Arbeit einiger palästinensischer Nichtregierungs-Organisationen hat die „NGO-isierung“ der palästinensischen Gesellschaft, die mit großenteils von Israels westlicher Unterstützung erhaltenen Fonds arbeitet, die Klassentrennung unter den Palästinensern weiter betont. Mit Ramallah und einigen wenigen anderen urbanen Zentren, die als Hauptquartiere der PA dienen, und einer massiven Liste von NGOs haben Jenin, Nablus und deren angeschlossene Flüchtlingslager in wirtschaftlicher Marginalisierung, unter israelischer Gewalt und politischer Vernachlässigung überlebt.
Enttäuscht vom verfehlten politischen Modell der PA und zunehmend beeindruckt durch den bewaffneten Widerstand in Gaza ist die bewaffnete Rebellion in der Westbank nur eine Frage der Zeit.
Was die frühen Zeichen einer massiven bewaffneten Intifada in der Westbank von der soge-nannten Jerusalem-Intifada von 2015 unterscheidet, ist, dass die letztere eine Serie von unorganisierten individuellen Akten war, ausgeführt von der unterdrückten Jugend der Westbank, während die frühere ein gutorganisiertes Graswurzel-Phänomen ist, mit einem einzigartigen politischen Diskurs, der der Mehrheit der palästinensischen Gesellschaft entspricht. Und ungleich der Zweiten Intifada von 2000 bis 2005 ist die nachfolgende bewaffnete Rebellion verwurzelt in einer Volksbasis, nicht in den Sicherheitskräften der PA.
Der engste historische Bezug zu diesem Phänomen ist die Palästinensische Revolte von 1936 bis 1939, geführt von tausenden Fellachen – Bauern – im ländlichen Bereich von Palästina. Das letzte Jahr dieser Rebellion war Zeuge eines großen Risses zwischen der Führung der Fellachen und den politischen Parteien im städtischen Bereich.
Die Geschichte wiederholt sich. Und wie bei der Revolte von 1936 liegt die Zukunft Palästinas und der palästinensische Widerstand – tatsächlich, der ganze soziale Aufbau der palästinensischen Gesellschaft – auf einer Linie.
Ramzy Baroud (www.ramzybaroud.net) ist ein internationaler Syndikats-Kolumnist und der Herausgeber von PalestineChronicle.com. Sein Buch heißt „My Father was a Freedom Fighter: Gaza’s Untold Story“ (Photo Press, London), nun auch erhältlich bei Amazon Com
(Quelle)
Übersetzung: Gerhilde Merz